Als Kommentar schreibt die Kunsthistorikerin Dagmar Winkler M. A. :
Die Kunst von Marlis Kühn will den Ausbruch wagen. Sie will raus aus dem goldenen Käfig der liberalen Gesellschaft, rein ins wahre, schreckliche, unerbittliche Leben führen. Sie will reizen, anklagen und wehtun, sie will wachrütteln, motivieren zur Teilhabe am politischen Leben. Dazu bedient sich Marlis Kühn in ihrer Malerei bisweilen drastischer realistischer Darstellung, um drastische Vergehen bekannt zu machen.
Politische Kunstäußerungen entstehen bekanntermaßen nicht im luftleeren Raum. Sie sind als Reaktion auf Missstände jeglicher Art zu verstehen, seien diese politisch, ökologisch, sozial oder kulturell begründet.
Politische Kunstäußerungen gibt es seit "Urzeiten" in der Kunst. Dada und Fluxus mit ihren in erster Linie gesellschaftskritisch begründeten Aktionen und Happenings kommen Ihnen wahrscheinlich sofort in den Sinn. In den 1970er Jahren machte Joseph Beuys mit seinen Aktionen auf sein Kunstwollen aufmerksam – was bis heute kontrovers diskutiert wird. Denn Beuys bot den Medien gute Geschichten und plakativen Ungehorsam. Damit stellten sich rasch Fragen, wie: In wieweit folgten diese Aktionen den Regeln einer skandalisierten Kampagne? Und in wieweit stellte sich Beuys damit in den Dienst der Medien? Auch heute muss sich politisch motivierte Kunst kritischen Fragen stellen. So geschehen zuletzt bei dem Kunstaktivisten Philipp Ruch, der 2015 mit einer Künstlergruppe, dem Zentrum für Politische Schönheit, vor dem Bundestag einige Gräber für ertrunkene Flüchtlinge ausheben ließ.
Marlis Kühn bezieht sich in ihrem politisch motivierten Kunstwollen auf das Werk von Joseph Beuys. So ist auf der Startseite ihrer Internetpräsentation folgendes Beuys-Zitat zu lesen: "Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität, die einzig revolutionäre Kraft ist die Kunst." Unterhält man sich mit der Malerin, leitet sie das Gespräch zügig zu den verkrusteten Strukturen des Kunstsystems, gegen das schon Beuys mit der "Besetzung" des Sekretariats der Kunstakademie Düsseldorf und mit der "Heimholung" agitiert hat. Vehement ärgert sie sich darüber, dass nur Künstler mit einem in der Kunstwelt goutierten Lebenslauf Galerien finden und ausstellen können und denkt laut über entsprechen kritisch ausgerichtete Kunstaktionen nach.
In ihrer Malerei bedient sie sich des Mittels des Schocks um zu provozieren. Unmittelbar verständlich ist dem Betrachter die Botschaft im Bild Lobpreisung. Es geht um die Konsumfalle. Wirkungsvoll ist es, weil es keiner Entschlüsselung bedarf. Im Zentrum des Bildes befindet sich eine Madonna mit Kind. Sie ist gemalt in den Farben und im parallel-streifigen Design der Plastiktüte von Aldi-Nord. Wie schützend ist sie eingefasst durch einen Rundbogen, flankiert rechts und links von je einer marmornen Säule. Die geraden Linien sowie die klaren Farben und die in den Minimalismus gekleidete Madonna bilden einen auffälligen Kontrast zu der sie umgebenden üppig barock daherkommenden Architektur. Geradezu propagandistisch macht Marlis Kühn den Konsumenten darauf aufmerksam, dass er heute zwar nicht mehr am Zipfel des pastoralen Ornats hängt, aber sein Wohl und Weh abhängig ist von einer marktwirtschaftlich geleiteten Markenwelt.
In der Arbeit Requiem reagiert Marlis Kühn auf die Ausbeutung fossiler Rohstoffe. In dunklen Farbtönen und in einer ungewöhnlichen perspektivischen Anordnung erkennt der Betrachter Deckenfelder einer gotischen Kirche und, wie aufgeklappt und frontal zum Betrachter gestellt, eine Orgel. Ein heller Rahmen umschließt die Darstellung, in dem die Abbildungen zweier Zapfpistolen mit Schlauch sowie dreier Metallrohre, aus denen jeweils ein Tropfen Öl entweicht, zu sehen sind. Passend zum Titel des Bildes assoziiert die Darstellung eine Benachrichtigungskarte, wie man sie anlässlich eines Todesfalls erhält. In diesem Fall wird die Messe für den fossilen Rohstoff Öl gehalten. Die Vorkommen sind bald erschöpft. Was tief greifende Veränderungen nicht nur im wirtschaftlichen Bereich nach sich ziehen wird.
Dass immer mehr Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, macht die Künstlerin zum Thema im Bild Sammelleidenschaft. Im Bildvordergrund eine Anzahl von Menschen, die Abfalleimer nach verwertbarem Müll durchsuchen. Erst auf dem zweiten Blick entschlüsselt sich der in orange gemalte Grund als die Flächenkarte der Bundesrepublik Deutschland, umgeben von einer schwarz-gelblichen Wasserlandschaft, in der sich Plastikflaschen befinden oder aus ihr aufsteigen. Sammelleidenschaft verbildlicht den Kreislauf von Produktion, Konsum und Verwertung. Plastikflaschen werden für den Konsum produziert, sie landen im Müll, "ernähren" einen am unteren Ende der Gesellschaft sich befinden Teil von Menschen, schließlich vergiften sie die Umwelt. Es ist keine vordergründige Belehrung des Publikums, sondern man muss sich das Bild genau anschauen, um dessen Botschaften zu erkennen. Die Wahrheit entsteht erst im Auge des Betrachters, er wird zum Mitschöpfer, zum mündigen Mitkünstler.
Weitere Bilder wie "Reserved", "Beichte", "Schnabeltassenblues", "Schneewittchen", "Dinner" oder "Go West" verbildlichen griffige Themen aus Kunst, Politik und Gesellschaft und machen reflexive Erfahrung möglich.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Marlis Kühn. "Mein Kunstverständnis ist politisch motiviert, mit der Zielsetzung, durch Ironie als künstlerischer Strategie, gesellschaftliche Themen und Fehlentwicklungen bildhaft umzusetzen."